Naturverbindung

Das Geheimnis der Baseline

Morgenstimmung © Marcel Gluschak

Du hörst den silbrigen Gesang eines Rotkehlchens ganz in deiner Nähe. Meisen zwitschern sorglos vor sich hin. Eine leichte Brise säuselt durch die Baumwipfel, die Sonne wirft ruhige Lichtspiele durch den morgendlichen Dunst. Alles um dich herum scheint vollkommen entspannt zu sein. Das ist sie: die Baseline der Natur – eine Grundstimmung, die magisch schön und besonders flüchtig ist.

Vor allem eines hilft uns, den beruhigten Puls in Wald und Feld zu orten: die Vogelsprache. “Das feinfühlige Vogelvolk mit seinen wachsen Sinnen”, schreibt Ralph Müller in seinem wundervollen Buch Die geheime Sprache der Vögel, “ist für die Tiere, aber auch für uns Menschen ein hervorragendes und schnell reagierendes Stimmungsbarometer.” Sobald eine Bedrohung in der Nähe ist, warnen sie sich und alle anderen Tiere mit lauten Warnrufen und auffälligem Verhalten. Diese Alarme sind universal für alle Artgenossen und andere Vogelarten verständlich, und auch die anderen Wildtiere verstehen sie unmissverständlich. Ist hingegen keine Gefahr in Sicht, erleben wir die ‘Polizei’ des Waldes ganz friedlich und mit sich selbst beschäftigt.

Amsel © Marcel Gluschak
Eine rufende Amsel © Marcel Gluschak

Es gibt zwei Grundstimmungen in der Natur: Harmonie und Spannung. In einem dicht gewobenen Netzwerk aus Interaktionen halten alle Vögel, alle anderen Tiere, die Pflanzen mit ihrer auf Duftstoffen basierenden Kommunikation, das Wetter und viele weitere Faktoren ein Mosaik aus Stimmungen am Leben, ein multidimensionales Bild.

Dieses Netzwerk ist für uns nicht in jedem Detail sichtbar, aber auch wir können es wahrnehmen und deuten. Die Natur hat uns die überlebenswichtige Fähigkeit geschenkt, aus einer großen Zahl vielfältiger Informationen ein Stimmungsbild entstehen zu lassen. Wir spüren, ob etwas in der Luft liegt – z.B. wenn sich ein Gewitter nähert – oder wenn wir uns für einen Moment entspannen können. Genau diese Gabe besitzen auch die unzähligen Mitwesen um uns herum.

Wolkenstimmung © Marcel Gluschak
Schauer in der Ferne © Marcel Gluschak

Wenn wir vor die Tür gehen, sind oft wir selbst der Grund, weshalb die Vögel Alarm schlagen und sofort alle andere Tiere verschwunden sind. Auch wenn wir mit der besten Absicht unterwegs sind: Solange wir schnurstracks in den Wald stapfen, um etwa ein Reh zu beobachten, werden die Alarmrufe von Blaumeise, Amsel und Co. jedes Reh davonlaufen lassen, lange bevor wir in Sichtweite sind. Es kommt darauf an, wie wir den harmonischen Raum betreten, und wie sensibel wir die Zeichen unserer Umwelt wahrnehmen.

Uns umgeben zwei Kreise: Wahrnehmung und Störung

Wenn wir rausgehen, umgeben uns zwei konzentrische Kreise: Der innere Kreis ist der unserer Wahrnehmung – was wir sehen, riechen, hören und spüren können, bewegt sich am Anfang für gewöhnlich in einem engen Umkreis. Der äußere Kreis ist der unserer Auswirkung auf den Raum – je nachdem, wie auffällig wir uns bewegen oder verhalten, tragen wir dieses störende Feld um uns herum, und Tiere flüchten schon lange vor unserer tatsächlichen Ankunft.

Mit wachsender Erfahrung können wir jedoch den inneren Kreis vergrößern – also unsere Wahrnehmung ausweiten – und den äußeren Kreis verkleinern, indem wir uns achtsamer bewegen und sensibel für unser eigenes Auftreten sind. Die Welt, die wir beobachten, wird immer bunter und vielfältiger, wir erkennen mehr Zusammenhänge. Irgendwann gelingt es uns schließlich, den harmonischen Raum kaum zu stören, und eher ein Teil von ihm zu sein. Wir kommen so nicht nur an Tiere näher heran – sie kommen sogar auf uns zu. Wir haben die konzentrischen Kreise gegeneinander getauscht und betreten einen magischen Raum.

Achtsames Wandern © Marcel Gluschak
Achtsam im Wald © Marcel Gluschak

Uns ist es sogar möglich, anhand der Veränderungen der Stimmung Ereignisse in der Landschaft zu ‘lesen’, die wir mit bloßem Auge nicht sehen können. Wir stehen zum Beispiel am Waldrand, plötzlich wird es für einen Moment still, die Baseline ist wie fortgeweht. Der Zaunkönig bricht mitten in der Strophe seinen Gesang ab – ungewöhnlich. Kurz darauf braust hinten im Wald ein Gewitter an Alarmrufen auf. Hektisches Flügelschlagen ist zu vernehmen. Wie Wellen im Wasser verbreitet sich der Alarm ringsum im ganzen Wald. Die Meisen sind häufig die schnellsten Warner, die anderen Vögel tragen die Signale weiter.

Die Vogelsprache hilft uns, in der Landschaft zu ‘lesen’

Für unterschiedliche Gefahrenquellen gibt es unterschiedliche Warnrufe, so dass die Tiere sogar erfahren, ob der Räuber aus der Luft angeschossen kommt oder sich auf Bodenhöhe anschleicht. Bodenalarm ist häufig durch kurze, sich wiederholende Rufe gekennzeichnet. Amseln und Buchfinken zum Beispiel zeigen mit der Frequenz sogar an, wie weit die Gefahr – zum Beispiel ein Marder, eine Katze oder auch ein Mensch – noch entfernt ist. Das Verhalten beim Bodenalarm kann sehr unterschiedlich sein: Es gibt Wächter, die mit aufrechter gespannter Körperhaltung die Gefahrenquelle fixieren, es gibt explosionsartiges Wegfliegen in alle Richtungen, und es gibt sogar wandernde ‘Räume der Stille’ und ‘Alarmglocken’, die die Bewegung der Gefahrnquelle nachvollziehbar machen.

Der Luftalarm, mit dem alle fliegenden Feinde wie etwa Sperber, Eulen oder der Kuckuck angezeigt werden, ist ein hohes, langgezogenes und pfeifendes “Sriiiiiiii” oder “Ziiiiiii”. Am Anfang ist er schwer auszumachen, doch hat man seine Ohren einmal dafür geschärft, ist er kaum zu überhören. Das Besondere: Gleich mehrere Vogelarten wie Amsel, Kohlmeise, Blaumeise, Buchfink und Rohrammer nutzen diesen durchdringenden Ton, der einerseits eine hohe Reichweite hat, aufgrund seiner Tonhöhe für Greifvögel aber schwer zu lokalisieren ist. Wer vertraut mit Alarmrufen ist, kann den Auftritt eines Räubers vorhersagen und erlebt dann womöglich, wie sich im Schutz der Hecken ein Fuchs nähert oder ein Habicht aus dem Wald geschossen kommt.

Buchfink © Marcel Gluschak
Singender Buchfink © Marcel Gluschak

Jede Gefahr ist irgendwann wieder vorbei. Wenn der harmonische Raum zurückkehrt, ist dies immer ein zauberhafter Augenblick. Wenn du dich in den Wald begibst, mag es sein, dass du zunächst die Vögel in Aufruhr versetzt und viele Tiere verscheuchst. Doch bleibst du dann eine halbe Stunde oder länger an einem Ort sitzen, bewegst dich kaum und vermittelst eine durchweg friedliche Körpersprache, kannst du erleben, wie die Baseline zurückkommt.

Die Merkmale einer ungestörten Baseline

Eine ungestörte Baseline erkennst du daran, dass die Vögel um dich herum…

  • Nahrung suchen und verzehren.
  • balzen, umeinander werben und sich mit Gesängen und Kontaktrufen ‘unterhalten’.
  • Nester und Bruthöhlen bauen.
  • ihren Körper pflegen, baden, sich putzen und sonnen.
  • sich gegenseitig behaken (auch wenn bei der sogenannten innerartlichen Aggression keine Harmonie zwischen den Individuen besteht, zeigt sie einen harmonischen Raum an, denn nur ohne Gefahr in Verzug lassen sich Vögel und andere Tiere auf diese Duelle ein),
  • und dass Jungvögel mit ihren Bettelrufen ihre Eltern um Futter bitten (bei Gefahr stellen sie ihr Betteln ein, denn der Räuber soll nicht das Nest entdecken).

Achte bei deinem nächsten Waldspaziergang gezielt auf deine Wahrnehmung und den Kreis deiner Wirkung auf die Tiere. Höre so sensibel wie möglich auf die Lautäußerungen der gefiederten Freunde. Versuche nicht, einzelne Vögel zu bestimmen, sondern achte vielmehr auf deren allgemeine Stimmung – wirkt das Vogelvolk entspannt, friedlich, aufgebracht oder gar panisch? Was verändert sich, wenn du für eine längere Zeit an einem Platz bleibst? Und wenn du einen Alarm ausgemacht hast: Was gibt es am Ort des Geschehens zu entdecken? Vielleicht findest du ja Spuren oder Federn, an denen du sonst vorbeigelaufen wärst.

Ich arbeite beim WWF Deutschland und bin dort zuständig für das Jugendprogramm. Nebenberuflich absolviere ich eine Ausbildung zum Naturerlebnispädagogen bei CreNatur sowie zum Wildnispädagogen bei der Wildnisschule Hoher Fläming. Ich liebe es, in der Natur unterwegs zu sein, ob zu Fuß, im Kanu oder mit dem Fahrrad. Es vergehen schnell Stunden, in denen ich mich ausdauernd in der Naturfotografie ausprobiere oder einfach den Moment genieße, beobachtender Teil der Natur zu sein. Achtsamkeit, Respekt für die Natur und Begeisterung für ihre Schönheit liegen mir sehr am Herzen.

4 Kommentare

  • Cristina Camarata

    Wunderschöne Fotos und eine sehr berührende, achtsame Betrachtung der Magie der Natur. Ja, die Baseline, diese magische, flüchtige Stimmung in der Natur ist das, was uns Menschen so gut tut, den Blutdruck senkt, den Atem reguliert, die Sinne sensibilisiert… und uns anzeigt, dass wir diese Stimmung mit unserem Verhalten aber auch direkt beeinflussen. Du hast sehr schön beschrieben, wie man sich am besten achtsam in der Natur verhalten soll, damit sich die ungestörte Baseline nach einer Störung wieder einstellt. Da wird uns bewusst, dass wir ein TEIL der Natur sind, verantwortlich für die anderen Lebewesen. Wenn wir ruhig und achtsam sind, gelingen solch magische Begegnungen und wundervollen Fotos! Und die friedliche Stimmung nährt unsere Seelen.

    • Marcel Gluschak

      Ja, die Achtsamkeit ist ein ganz besonderer Schlüssel zu einer neuen Wahrnehmung und zu mehr Lebensqualität. Die Fähigkeit dazu steckt in uns allen – wir müssen uns nur darauf einlassen.

  • Zine

    Lieber Marcel, es war wunderbar Deinen bereichernden frohen sanftmütigen enthusiastischen Einfluss auch auf die uns umgebende Stadtnatur mitzuerleben, auch wenn du mir nur selten direkt begegnet bist, kann ich immernoch Deine Spuren besonders auf dem Ziegi lesen un Danke Dir auch für Deinen Abschiedstipp zum Umgang mit unserer halbkünstlerischen “Vogelstimme” dem Mailverteiler!!!
    Wir wünschen dir viele gute Energiewellen und hoffen bald wieder von Dir zu lesen oder uns sogar mal in kleiner Gruppe zu treffen und sich mit Dir über mehr Naturschutz in der Stadt austauschen zu können. Herzlich herstlich Zine

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