Winter

Wie vom Himmel gefallen: die Mistel

zwei Misteln auf einem Obstbaum © Marcel Gluschak
Die Mistel wächst als immergrüner Parasit auf verschiedenen Bäumen. © Marcel Gluschak

Um kaum eine andere heimische Pflanze ranken sich so viele Mythen. Als sei sie nicht von dieser Welt, gedeiht die Mistel als kugeliges Gebilde hoch oben in den Baumkronen. Ihre Blätter leuchten auch im Winter goldgrün. Lange Zeit konnte man sich nicht erklären, wie die geheimnisvolle Mistel überhaupt wächst, ohne mit dem Erdboden verbunden zu sein. Für die keltischen Druiden war klar: So eine Pflanze muss Zauberkräfte haben.

Geheimnisvoller Baumbewohner

Die Weißbeerige Mistel (Viscum album), allgemein einfach Mistel genannt, ist eine Pflanzenart in der Familie der Sandelholzgewächse (Santalaceae). Während sich andere Pflanzen mühevoll aus dem Boden strecken müssen, um ausreichend Sonnenlicht abzubekommen, fängt die Mistel einfach schon ganz oben an, zu wachsen. Sie wurzelt nicht im Boden, sondern lebt parasitisch auf Bäumen. Das heißt, sie entzieht dem Holz, auf dem sie wächst, das darin transportierte Wasser und die mitgelieferten Mineralsalze.

Es werden drei Unterarten unterschieden, die jeweils anzeigen, auf welchen Wirtsbäumen die Misteln wachsen: die Tannen-Mistel, die Kiefern-Mistel (auch Föhren-Mistel) und die Laubholz-Mistel. Letztere schmarotzt auf Weiden, Pappeln, Apfelbäumen, Birnbäumen, Weißdorn, Linden, Robinien und Ahorn. Auf Rotbuchen, Süßkirschen, Pflaumenbäumen, Walnüssen und Platanen kommt sie nicht vor. Auch Eichen werden meistens verschont. In ihrem Erscheinungsbild unterscheiden sich alle drei Unterarten kaum voneinander. Ihre Zweige wachsen zu kugeligen Büschen heran, die bis zu 1 Meter Durchmesser erreichen können und im Winter wie riesige Vogelnester schon von Weitem zu sehen sind. An den Enden der Sprossachsen sitzen gegenständig die ungestielten Blätter. Das Blattgewand wirkt ledrig. Die Blätter sind länglich geformt und zwischen 2,5 und 7 cm lang.

Mistel auf einem Obstbaum © Marcel Gluschak
Im Winter sorgen Misteln für grüne Farbtupfer im Wald. Im kahlen Geäst wirken sie wie übergroße Weihnachtskugeln. © Marcel Gluschak

Misteln haben sich perfekt an das Leben in den Baumkronen angepasst. Der kugelige, gedrungene Wuchs der Mistel bietet dem Wind nicht viel Angriffsfläche, um die Pflanzen aus ihrer Verankerung zu reißen. Die Pflanze wächst als Kugel, weil ihre Triebe keine sogenannten Terminalknospen besitzen. Bei anderen Pflanzen entsteht dort im Folgejahr der nächste Triebabschnitt. Stattdessen teilt sich bei der Mistel jeder Trieb an seinem Ende in zwei bis fünf ähnlich lange Seitentriebe, die alle etwa im selben Winkel abzweigen.

Misteln sind zweihäusig – das heißt: Es gibt rein weibliche und rein männliche Pflanzen. Sie blühen schon im März, wenn die Bäume noch keine Blätter tragen, ihre Beeren reifen aber erst im Dezember, wenn die Bäume wieder kahl sind. So werden die Blüten und Beeren von Insekten und Vögeln leichter gefunden. Mindestens 27 Vogelarten, die uns im Winter begleiten, sind in der kargen Jahreszeit für die hellen Früchte dankbar. Hierzu gehören die vergleichsweise seltene Misteldrossel und der Seidenschwanz – ein Wintergast aus Skandinavien und Russland. Aber auch häufige Arten wie Mönchsgrasmücke, Singdrossel und Wacholderdrossel verzehren die Beeren gerne.

Wie kommt die Mistel in die Baumwipfel?

Ohne Umwege direkt in die höchsten Stockwerke zu kommen – das schafft die Mistel nur dank ihrer gefiederten Besucher. Es sind die Vögel, die der Mistel ihr außergewöhnliches Dasein ermöglichen. Die weißen Mistel-Beeren sind so klebrig, dass Teile davon gerne am Vogelschnabel haften bleiben. Wetzt der Vogel seinen Schnabel an einem Zweig, kleben die Mistelsamen an der Rinde des künftigen Wirtsbaumes fest. Aber auch über den Weg der Verdauung gelingt der Klebetrick. Die Vögel können den schleimumhüllten Fruchtkern mit den Samen nicht verdauen. Deshalb scheiden sie die Samen mitsamt Klebehülle wieder aus. Wenn diese wieder auf einem Zweig landen, kann dort eine neue Mistel entstehen. So kann sich der Parasit von einer zur nächsten Generation über mehrere Kilometer verbreiten.

Mistelbeeren im Sonnenlicht © Marcel Gluschak
Mistelbeeren: Klebriges Vogelfutter im Winter. © Marcel Gluschak

Bis die Mistel an den Leitungsbahnen ihres Wirtes andockt, vergeht allerdings rund ein Jahr. Die Jungpflanze hat also eine lange Durststrecke zu überstehen. Auch danach wächst die Mistel recht langsam. Erst im zweiten Jahr bildet sich der erste verzweigte Spross. Bis die Pflanze ihre typische kugelige Form erreicht, können bis zu 70 Jahre vergehen.

Bei der Keimung streckt sich zunächst der Keimstängel vom Licht weg. Unweigerlich trifft er so auf die Rinde. Dort bildet der Keimling dann eine Haftscheibe aus, aus deren Zentrum er zunächst einen Penetrationskeil, danach einen Saugfortsatz durch die Rinde des Wirtsastes schiebt. Ihre Saugorgane, die sogenannten Haustorien, zerstören die Zellwände der Bäume und dringen immer tiefer in das Wirtsgewebe. Dieser Keil kann bis zu einem halben Meter tief in den Baum gehen.

Mistelbefall auf einem Obstbaum mit charakteristischer Wucherung © Marcel Gluschak
Hier wächst die Mistel aus einem Ast, der deutliche Wucherungen erkennen lässt – Abwehrbemühungen des Baumes. © Marcel Gluschak

Für die meisten Bäume ist die Anwesenheit eines solchen ungebetenen Untermieters kein Problem. In der Regel entzieht die Mistel ihrem Wirtsbaum nur so viel Wasser und Nährstoffe, dass dieser noch genug zum Leben hat – schließlich würde sie sonst sprichwörtlich den Ast absägen, auf dem sie sitzt. Ein besonders dichter Mistelbefall kann jedoch das Wachstum eines Baumes durchaus hemmen. Insbesondere Apfelbäume können daran zugrunde gehen. Übrigens ist auch die Mistel selbst nicht davor gefeit, angezapft zu werden. Es kann durchaus passieren, dass Mistelsamen auf dem Spross einer Mistel kleben bleiben und dort keimen – eine Mistel also als Parasit auf einer anderen Mistel wächst.

Vom todbringenden Pfeil zum Symbol der Liebe

In der nordischen Mythologie hat das eigentümliche Gewächs eine schicksalhafte Rolle. Die Mistel war mit verantwortlich für den Untergang des Götterreichs Asgard. Baldur, der Sohn der Göttin Frigga, konnte durch kein irdisches Wesen getötet werden. Seine Mutter hatte allen auf dem Erdboden lebenden Geschöpfen einen entsprechenden Eid abgenommen. Nur die in luftiger Höhe wachsende Mistel hatte sie dabei vergessen. Die Germanen berichteten in ihren Sagen, wie sich daraufhin die anderen Götter einen Spaß daraus machten, Baldur mit allerlei Dingen anzugreifen. Schließlich war er doch unverwundbar. Der heimtückische Loki jedoch verleitete Baldurs blinden Bruder Hödur, es ebenso zu versuchen, und gab ihm zu diesem Zweck einen Pfeil aus Mistelholz. Tatsächlich traf Hödur seinen Bruder, der sofort tot zu Boden sank.

Mistelbeeren im Sonnenlicht © Marcel Gluschak
In der Germanischen Sagenwelt wachsen die perlenartigen Beeren der Mistel aus den Tränen der Göttin Frigga. © Marcel Gluschak

Aus Trauer um ihren Sohn weinte Frigga unzählige Tränen, die sich der Sage nach in die Beeren der Misteln verwandelten. Als Baldur daraufhin wieder erwachte, küsste Frigga voller Freude jeden, den sie unter dem Baum traf, an dem die Mistel wuchs. Und so verbreitete sich der Brauch, dass sich Liebende unter Mistelzweigen küssen sollen, um Glück zu haben. In Skandinavien und England ist es schon lange Tradition, rund um die Weihnachtszeit Mistelzweige aufzuhängen.

Doch nicht allen unseren Vorfahren waren die Misteln geheuer – offensichtlich, weil sie als “Halbschmarotzer” so manchem Obstbaum das Leben aussaugt. So erfand der Volksmund eine ganze Reihe gruseliger Namen: Hexennest, Hexenbusch, Teufelssaat, Teufelsbesen, Trudennest, Gespensterrute, Alpranke und Mahrtake (Mahr = Nachtgeist, Take = Zweig). Unsere keltischen Vorfahren hingegen verehrten die Mistel. Für die Druiden war sie die heilige Pflanze schlechthin.

Die Mistel war für die Kelten eine heilige Pflanze

In der keltischen Naturanschauung liegt in allem, was uneindeutig ist, eine magische Kraft. So zum Beispiel im zwielichtigen Moment der Dämmerung, bei der Tag und Nacht ineinander übergehen. Ebenso im schläfrigen Moment des Aufwachens und im diffusen Augenblick des Einschlafens. In diesen kurzen Phasen des Übergangs konnten sich nach keltischer Vorstellung die Tore zur Anderswelt öffnen. Bei der Mistel haben wir es mit einer Pflanze zu tun, die genau dieses Prinzip verkörpert. Sie ist weder Baum noch Kraut. Ein Vogel – ein Wesen, das am Boden und in der Luft lebt – trägt sie zu ihrem Bestimmungsort. Dort wächst sie zwischen Himmel und Erde, und scheint dabei vom Lauf der Jahreszeiten entkoppelt zu sein.

gelbliche Blätter einer Mistel © Marcel Gluschak
Fast unwirklich gelblich erscheinen die Blätter der selteneren männlichen Misteln. © Marcel Gluschak

Auch aus dieser Weltsicht entwickelte sich der Brauch, an Weihnachten einen Mistelzweig über der Türschwelle aufzuhängen. Wer sich unter einer Mistel befindet, ist – wie die Mistel selbst – frei von allem. Dann befindet man sich an einem “Zwischenort”, wo alles möglich werden kann. In der bildhaften Vorstellung der Kelten symbolisierten die weißen Beeren zudem die Spermatropfen des kosmischen Stiers, der die alles gebärende Göttin befruchtet. Kein Wunder also, dass die immergrüne Mistel auch als Symbol der Fruchtbarkeit galt. Nicht zuletzt, weil die Pflanze scheinbar übernatürliche Kräfte beweist, wenn sie ausgerechnet im kalten Winter aus ihren unscheinbaren Blüten leuchtende Beeren hervorbringt.

Kugelige Mistel auf einem kahlen Baum © Marcel Gluschak
Eine Mistel als einziger Farbpunkt zwischen kahlen Robinien. © Marcel Gluschak

Entsprechend aufwändig war es, Misteln zu sammeln. Ihre magische Kraft konnte nur zur richtigen Zeit und auf dem richtigen Weg auf den Druiden übergehen. Nur am Johannistag oder zur Winersonnenwende durfte er die Pflanze ernten. Keinesfalls durfte er die Mistel abreißen oder mit einem Messer abschneiden – das Metall hätte den Mistelgeist vertrieben. Der Druide musste die Mistel mit einem Pfeil vom Baum schießen und sie mit der linken Hand auffangen. Auf keinen Fall durfte die himmlische Mistel den Boden berühren, sonst wäre ihre Zauberkraft verloren gegangen.

Zauberpflanze mit heilender Wirkung

Die Mistel wird heute nicht nur als Weihnachtsdekoration, sondern auch als Heilpflanze geschätzt. Zwar sind die weißen Beeren und auch die übrigen Pflanzenteile der Mistel giftig. Aber wie immer macht die Dosis das Gift. Schon seit der Antike wurde die Mistel als natürliches Heilmittel gegen Schwindel eingesetzt. Auch die Kräuterkundler des Mittelalters verabreichten Mistel gegen erfrorene Gliedmaßen oder zum Blutstillen. Und als Pflanze, die hoch oben wächst und niemals zu Boden fällt, sollte sie sogar gegen Epilepsie, die Fallsucht, helfen. In der modernen Medizin werden Blattextrakte in zahlreichen Medikamenten zur Blutdrucksenkung, bei Altersbeschwerden und Arteriosklerose, ja sogar zur Krebsbehandlung eingesetzt.

zwei Misteln auf einem Obstbaum © Marcel Gluschak
Misteln von 1 Meter Durchmesser können bis zu 70 Jahre alt sein. © Marcel Gluschak

Trotz ihrer cleveren Überlebensstrategie ist auch die Mistel nicht unverwundbar. Ihre immergrünen Blätter vertragen keine intensive Wintersonne. Und wenn der Wirt bei lang anhaltendem Frost oder bei extremer Trockenheit kein Wasser mehr durch sein Gewebe leitet, leidet die Mistel schnell unter Wassermangel. Ihre grünen Blätter vertrocknen dann und werden braun. Aktuell jedoch scheint es den Misteln gut zu gehen. Sie breiten sich vor allem in Süd- und Mitteldeutschland so stark aus, dass sogar der NABU dazu aufruft, befallene Apfelbäume und Ebereschen zu beschneiden.

Ich arbeite beim WWF Deutschland und bin dort zuständig für das Jugendprogramm. Nebenberuflich absolviere ich eine Ausbildung zum Naturerlebnispädagogen bei CreNatur sowie zum Wildnispädagogen bei der Wildnisschule Hoher Fläming. Ich liebe es, in der Natur unterwegs zu sein, ob zu Fuß, im Kanu oder mit dem Fahrrad. Es vergehen schnell Stunden, in denen ich mich ausdauernd in der Naturfotografie ausprobiere oder einfach den Moment genieße, beobachtender Teil der Natur zu sein. Achtsamkeit, Respekt für die Natur und Begeisterung für ihre Schönheit liegen mir sehr am Herzen.

1 Kommentar

  • Cristina Camarata

    Bei diesem spannenden, interessanten Bericht über die wunderschönen, geheimnisvollen Baum”schmarotzer” habe ich wieder so viel dazugelernt, viele Antworten auf die Fragen bekommen, die ich mir immer beim Anblick dieser prächtigen Kugeln gestellt habe. Mir war nie aufgefallen, dass es auch Misteln auf Nadelbäumen gibt. In Laubbäumen fallen sie ja sehr viel mehr auf. Weiß man, warum sie nicht auf Rotbuchen, Eichen, Walnuss-, Süßkirsch- und Pflaumenbäume gehen?
    Den Abschnitt über die Mythologie der magischen Misteln fand ich auch sehr spannend und bildhaft erzählt. Endlich weiß ich, woher der Brauch mit dem Küssen unter den Mistelzweigen kommt 😅. Nun schaue ich die herrlichen Gebilde auch mit noch mehr Ehrfurcht an, wo ich weiß, wie alt sie werden müssen, um
    eine stattliche Größe zu erreichen.
    Und stelle mir vor, wie kompliziert die Ernte für die Druiden war…
    Und ihre Heilwirkung wird hoffentlich noch weiter erforscht und im Einsatz gegen ernsthafte Erkrankungen erfolgreich zum Einsatz kommen. 💚

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