Wie Pflanzen Frost und Eis überleben
Schon im Herbst, spätestens aber im Winter, sinken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt. Ich habe mich lange gefragt, wie Pflanzen es schaffen, dass ihre zarten Blätter und Halme dann nicht eingefroren werden. Wieso kann ich auch bei Frost über eine Wiese gehen, ohne dass die Halme wie Eisnadeln brechen? Wie jeder weiß, können Pflanzen nicht einfach ihre Wurzeln nehmen und irgendwohin gehen, wo es wärmer ist. Sie sind Frost, Eis und Schnee schutzlos ausgeliefert. Doch die Pflanzen haben erstaunliche Strategien entwickelt, um sich vor dem Kältetot zu schützen.
Einfach auf den Winter verzichten: Wenn nur der Samen überwintert
Die wohl drastischste Strategie in der Pflanzenwelt, die Kälte zu umgehen, besteht schlicht darin, den Frost gar nicht erst zu erleben. Die sogenannten Therophyten (vom griechischen “théros” = “Wärme”, “Sommer”) keimen, wachsen, blühen und bilden Samen innerhalb eines Sommers aus. Im Herbst lassen sie ihren gesamten Körper planmäßig absterben und überdauern den Winter nur als Samenkorn. Es besteht nur aus wenigen sehr harten, verholzten Zellen und enthält kaum Wasser. Dafür sind aber Speicherstoffe darin verpackt, und vor allem das embryonale Stammgewebe (Meristem), mit dessen Hilfe neues Leben möglich ist. Zu den Therophyten – man spricht auch von “einjährigen Pflanzen” – gehören zum Beispiel viele Ackerwildkräuter wie Klatsch-Mohn, Kornblume und Echte Kamille.
Die mehrjährigen Arten hingegen müssen den Winter in ihrem Pflanzenleben mit einplanen. Aber auch die krautigen Stauden, die sommergrünen Gehölze und die immergrünen Pflanzen haben sich in der Evolution effektive Tricks gegen Frost und Eis erarbeitet.
Rückzug in die Speicherorgane
Das Schneeglöckchen ist die erste Blume, die sogar schon im Februar zu blühen beginnt. Den Winter verbringt es tief schlafend unter der Erde. Doch bei den ersten Sonnenstrahlen erwacht die Blumenzwiebel zum Leben. Das Schneeglöckchen arbeitet sich dann mit seinen grünen Spitzen durch den gefrorenen Boden und durchbricht die Schneedecke.
Das Schneeglöckchen gehört zu den sogenannten Geophyten, die man als “Erdpflanzen” übersetzen kann. Das sind mehrjährige Pflanzen, die ihre Überdauerungsorgane unter der Erde verbergen. Man spricht daher auch von Kryptophyten (vom griechischen Wort “kryptós” = “verborgen”). Ihre gespeicherte Energie ist in den Wurzeln, Zwiebeln, Knollen oder Rhizomen vor dem strengen Frost geschützt. Die meisten Geophyten sind niedrige Pflanzen mit kleinen, oft schmalen Blättern, die gerne im Wald vorkommen. Sie sprießen sehr zeitig im Jahr aus dem Boden und erhalten somit noch viel Licht, bevor die Bäume mit ihren Blättern den Waldboden verdunkeln. Typische Vertreter sind die Frühblüher wie Buschwindröschen, Schneeglöckchen, Lerchensporn, Schlüsselblume oder Krokus.
Viele Geophyten sind also deutlich früher zu sehen als die anderen Pflanzen. Sie können nur deshalb so schnell austreiben, weil sie die Energie dafür aus ihren unterirdischen Speicherorganen ziehen können. Oft entwickeln sie sogar erst die Blüten und dann die Blätter. Auf diese Weise können sie schon im Vorfrühling Insekten anlocken, während nur wenige andere Pflanzen blühen – das erhöht deutlich die Chance, bestäubt zu werden.
Wenn gegen Frost die “wärmende” Schneedecke hilft
Viele mehrjährige Stauden wie zum Beispiel die Flockenblume, die Margerite oder die Schafgarbe lassen ihre Knospen ganz nah an der Erdoberfläche sprießen. Sie machen sich zunutze, dass es unter der Laub- und Schneedecke nicht ganz so kalt wird. Bei Null Grad Celsius taut der Boden unter der Schneedecke sogar auf. Diese Hemikryptophyten, also die „Halbverborgenen“, bilden deshalb ihre Knospen für das nächste Jahr unter dieser schützenden Schicht an der Basis der diesjährigen Triebe.
Auch die Zweijährigen wie Wilde Möhre, Königskerze oder Fingerhut gehören dazu, selbst wenn es nur ein einziger Winter ist, den die Mutterpflanze überleben muss, um im Folgejahr zu blühen, Samen zu bilden und danach abzusterben. Wie aber verhindern diese Pflanzen, dass ihre Knospen und Speicherorgane bei dauerhaften Minustemperaturen trotzdem zerstört werden? Hierfür hat sich die Natur einen weiteren Trick einfallen lassen.
Pflanzen bilden ihr eigenes Frostschutzmittel
Die Zellen aller Lebewesen bestehen zu einem großen Teil aus Wasser. Wenn es gefriert, hat Wasser die Eigenschaft, sich auszudehnen. Außerdem bilden sich feine, scharfkantige Eiskristalle. Eine Zelle, in der das Wasser gefriert, stirbt daher unweigerlich ab, da das sich ausdehnende Wasser die Zellmembran zerstört.
Damit das Wasser in diesen Zellen im Winter nicht gefriert, bilden Pflanzen ein eigenes Frostschutzmittel. Verschiedene Zucker, Aminosäuren, Alkoholverbindungen und andere osmotisch wirksame Stoffe in den Pflanzenzellen setzen den Gefrierpunkt herab. Bei den Geophyten sind zusätzlich Salze oder Schleimstoffe in den Überdauerungsorganen eingelagert, die wie ein Frostschutzmittel wirken.
Der Gemeine Efeu kann beispielsweise durch die Einlagerung von Zucker den Gefrierpunkt auf -3 °C herabsetzen. In den besonders kalten Regionen unserer Erde gibt es sogar Pflanzen, die auf diese Weise Temperaturen unter -45 °C trotzen können! Um ihre Zellen mit dem Frostschutz auszustatten, braucht eine Pflanze allerdings mindestens 24 Stunden. Sie muss also rechtzeitig damit beginnen. Kommt der Kälteeinbruch überraschend, erfriert sie.
Im Holz werden die Lebensstoffe zwischengelagert
Bäume und Sträucher können ihre Knospen nicht unter der Laubstreu oder der Schneedecke verstecken. Daher bezeichnet man sie auch als Phanerophyten, als „Luftpflanzen“. Da ihre verletzlichen Knospen und Blätter dem winterlichen Frost ohne jeden Schutz ausgesetzt sind, mussten sich diese Pflanzen wiederum andere Überwinterungsstrategien überlegen.
Bäume speichern ihre Energie nicht im Laub, sondern im Holzkörper. Wenn es kalt wird, vollziehen sie einen enormen Kraftakt und ziehen alle wertvollen Stoffe aus den Blättern zurück unter die Rinde. Das ist auch der Grund, weshalb die Blätter im Herbst bunt werden. Denn ein Laubbaum wäre bei winterlicher Kälte vor allem einer Gefahr ausgesetzt: zu verdursten. Im Boden gefrorenes Wasser könnte von den Pflanzen nicht aufgenommen werden, obwohl bei Sonnenschein die Blätter weiterhin Wasser verdunsten würden. Der Wassertransport würde abreißen und die Pflanze vertrocknen.
Für den Baum wäre es auch deshalb gefährlich, im Winter Laub zu tragen, weil es dann viel mehr Auflageflächen für Schnee gäbe und die Zweige und Äste unter der Last abbrechen würden. An den Zweigen verbleiben also nur noch die Blattknospen. Der Baum schützt diese empfindlichen Stellen vor der Kälte, indem er sie unter vielen trockenen Knospenschuppen abschirmt. Innerhalb dieser Schuppen leistet ein weißer Pelz aus toten Haaren zusätzlichen Schutz – er wirkt isolierend wie bei uns ein Schlafsack. Natürlich lagern die Bäume in den Knospen ebenfalls Fette und Zucker als ‘Frostschutzmittel’ ein. So trotzen die Knospen Kälte und Frost. Allerdings sind diese Zuckerspeicher, wenn sie zu tief hängen, auch für Rehe und andere Pflanzenfresser im Winter ein wahrer Leckerbissen.
Was bei uns die Winterjacke ist, ist beim Baum die Rinde. Sie besteht aus verholztem Gewebe und führt kein Wasser. Die vielen Lufteinschlüsse wirken isolierend. Die Leitbahnen und das aktive Kambium sind durch die Baumrinde geschützt und frieren im Winter nicht ein.
Nadeln statt Blätter
Die immergrünen Nadelbäume sind besonders tollkühn – Sie scheinen sich vom Winter überhaupt nicht einschüchtern lassen zu wollen und werfen ihr Laub nicht ab. Eine Ausnahme bildet die Lärche, die wie der Laubbaum jährlich sein Blätterkleid erneuert. Vor allem im hohen Norden müssen die Bäume mit wenig Licht und viel Kälte zurecht kommen. Daher sind hier vor allem die Nadelbäume zuhause, wie zum Beispiel die Fichten. Statt Blätter haben sie kleine, harte Nadeln. Ihre Photosyntheseleistung ist zwar aufgrund der geringen Fläche nicht so hoch wie die der Laubbäume, jedoch sparen sie sehr viel Energie ein, indem sie ihre ‘Blätter’ nicht jedes Jahr neu bilden müssen.
Um im Winter weiter ihre Photosynthese-Organe tragen zu können, verlagern Nadelbäume auch weniger Reservestoffe in ihren Holzkörper. Stattdessen passen sie ihre Blätter durch raffinierte Strukturen und die Einlagerung verschiedener Stoffe an die kalte Witterung an. Damit diese nicht übermäßig Wasser verdunsten, sind die Spaltöffnungen der Nadeln in einer dicken Wachsschicht der Oberhaut versenkt. Das verhindert, dass der Baum im Winter durch hohe Verdunstungsraten austrocknet. Die Knospen überwintern in einem Ruhezustand, der durch einen speziellen Hormoncocktail angestoßen wird.
Forscher haben das Genom von Kanadischen Fichten und Kiefern untersucht und herausgefunden, dass jeweils 43 Gene allein dafür sorgen, dass sich die Nadelbäume im Winter auf die Kälte einstellen können und Frostschutzmittel bilden. Auch die Wuchsform der Fichte ist eine perfekte Anpassung an die Kälte: Wie ein zusammengeklappter Regenschirm machen sie sich ganz schmal, so dass die Auflagefläche für Eis und Schnee möglichst klein ist.
Ich finde, dies alles sind faszinierende Eigenschaften. Die Nadelbäume haben sich diese im Laufe ihrer 270 Millionen Jahre andauernden Evolution erarbeitet. Wir Menschen können von uns jedenfalls nicht behaupten, für mehrere hundert Jahre nackt bei Minus 40 Grad an der gleichen Stelle stehen zu können – und dabei nicht nur nicht zu erfrieren, sondern uns auch selbst zu versorgen.
1 Kommentar
Christiane Eichberger-Cammarata
Dieser sehr interessante und informative Bericht über die verschiedenen Strategien der Pflanzen, den Winter zu überstehen, liest sich wie eine herrliche Wanderung durch die verschneite und vereiste Natur. Die wundervollen Fotos sind sehr beeindruckend. Diese sind sicher nicht in der Gegend entstanden, in der wir hier aufgrund des Klimawandels viel zu milde Winter erleben. Beim Lesen dieses umfangreichen Artikels wird man ganz still und spürt nach… Die Natur ist immer wieder erstaunlich und großartig! Pflanzen und Tiere haben im Laufe der Evolution so viele verschiedene, höchst intelligente Lösungen gegen das Erfrieren entwickelt! Der Schlusssatz drückt es so gut aus. 💚 Ja, wir Menschen können noch unendlich viel von den Pflanzen und Tieren lernen. Die schädigen nicht die gesamte Umwelt und Unbeteiligte, wenn sie sich wärmen, so wie der Mensch es mit der Verbrennung fossiler Stoffe bisher verursacht hat! Und sie halten inne und ruhen… Uns täte auch eine Winterpause gut, das wäre für uns gesünder, anstatt immer mit vollem Tempo durchzuarbeiten, und nicht auf die “innere Uhr” zu hören. 🤔