Rotwild-Spuren in der Brunftzeit
Von Anfang September bis Ende Oktober herrscht große Aufregung beim Rotwild: Es ist Brunftzeit. Die Rothirsche sind nun rastlos und setzen alles daran, die Gunst eines Weibchenrudels zu erlangen. Während eines Trailing-Kurses zur Zeit der Brunft im Wald bei Luckenwalde folgten wir über Stunden der Fährte eines Rothirschs. Die Spurensuche endete mit einem faszinierenden Fund…
Einem Rothirsch dicht auf den Fersen
Die Luft ist diesig, kühl und feucht. Es riecht nach Wald. Doch es ist eine gespenstische Kulisse, die uns umgibt. Schwarze Birkenstämmchen und verkohlte Krusten – Zeugen eines Waldbrands, der letztes Jahr hier mehrere Hundert Hektar in seiner Gewalt hatte. Doch der Wald lebt weiter. Kleine Pflänzchen durchstoßen die Asche, die älteren Bäume tragen weiter Laub, und zahlreiche Tierspuren durchkreuzen den sandigen Grund. Hoch konzentriert mustern wir den schwarzen Boden, wo sich der Hufabdruck eines Rothirschs abzeichnet. Wie schnell war das Tier hier unterwegs? Wie entspannt wirkt seine Gangart? Wohin führt die Fährte als nächstes?
Beim Trailing spüren wir uns in ein Tier hinein, indem wir seiner Fährte folgen. Wir gehen Trittsiegel für Trittsiegel die Spur entlang und lesen die Zeichen, die das Tier hinterlassen hat. Dabei kann es gelingen, einem Tier so konsequent zu folgen, dass man es einholt. Es darf jedoch keinesfalls passieren, das Tier zu stören. Dementsprechend achtsam, leise und zurückhaltend bewegt man sich beim Trailing vorwärts.
Einer Fährte über eine längere Strecke zu folgen, braucht viel Übung. Immer wieder verliert sich die Spur, zum Beispiel weil der Untergrund härter wird. Ältere Spuren können leicht vom Regen oder vom Wind verwaschen sein. Unzählige andere Tiere können die Fährte gekreuzt haben, so dass man womöglich nicht mehr dem gleichen Tier folgt.
Wir konzentrieren uns darauf, der jeweils frischesten Spur zu folgen. Es ist die Spur eines Rothirsches. Dass sich hier viel Rotwild aufhält, ist nicht zu überhören. Aus mehreren Richtungen erreicht uns das durchdringende Röhren der rivalisierenden Hirsche. Vor uns zieht sich eine besonders frische Fährte über den teils sandigen, teils verkrusteten Boden. Die Kanten der Trittsiegel sind scharf, in den Spuren liegen kaum Kiefernnadeln oder Blätter. Sie ist vielleicht nur eine Stunde alt. Selten war ich mit meinen Gedanken so sehr im Hier und Jetzt.
Rotwild-Spuren erkennen
Rothirsche leben in Rudeln in offenen Wäldern in der Nähe von Feldern sowie in Heide- und Felslandschaften. Sie sind die zweitgrößte Hirschart in Europa – nur Elche sind größer. Die Tiere können 2,5 Meter lang werden und ein Gewicht von 160, Männchen sogar von bis zu 250 Kilogramm erreichen.
Das Rotwild (Cervus elaphus) gehört zur Ordnung der Paarhufer. Die beiden Klauen (Zehen), mit denen sie auftreten, entsprechen unserem Mittel- und Ringfinger. Die anderen Klauen der 2. und 5. Zehe (die ursprünglich vorhandene erste Zehe fehlt bei heutigen Paarhufern immer) sitzen weiter hinten am Lauf. Diese sogenannten Afterklauen liegen höher und sind im Trittsiegel des Rotwilds daher nur dann zu sehen, wenn der Fuß tief im Boden einsinkt. Der Abdruck eines Rothirschs zeigt also vor allem zwei nach vorne leicht zugespitzte Hufe. Sie werden auch als Schalen bezeichnet und sind bei den männlichen Tieren 8 bis 9 cm lang und 6 bis 7 cm breit. Ihre Spitze ist etwas mehr abgerundet als bei den Hirschkühen, deren Hufe mit 6-7 cm Länge und 4,5 bis 5 cm Breite auch etwas kleiner sind.
Eine Verwechslungsgefahr besteht mit Damwild. Die Spuren von Damhirschen sind jedoch schmaler und vorne spitzer. Die Trittsiegel von Wildschweinen wiederum sind breiter als die von Rothirschen, und auch ihre Schrittlänge ist wesentlich kleiner. Vor allem aber zeichnen sich beim Wildschwein die Afterklauen deutlicher ab.
Die Abdrücke der Vorderhufe sind am größten und am deutlichsten gespreizt. Schließlich müssen die Vorderbeine den kräftigen Rumpf und somit den größeren Teil des Körpergewichts tragen. Allein das Geweih wiegt drei bis zehn Kilogramm. Doch gespreizte Schalen sind auch ein möglicher Hinweis auf Bewegung. Wenn das Tier seine Gangart beschleunigt, ist für ein paar Schritt mehr Druck auf den Zehen. Ebenso kann aber auch ein matschiger Boden die Schalen auseinanderspreizen. Beim Spurenlesen sind schnelle Antworten also nicht gefragt. Jede Interpretation muss immer wieder hinterfragt werden.
Die Trittsiegel der Rothirsche zeigen typischerweise leicht nach außen. Man könnte auch sagen: Rotwild läuft ähnlich wie Charlie Chaplin. Das erschwert die Suche nach dem jeweils nächsten Trittsiegel, da die Tiere ja selten geradeaus laufen und immer wieder die Richtung wechseln können.
Röhren, Imponieren und Duellieren
Mit ungefähr sechs Jahren kann ein Hirsch zum Platzhirsch werden und ein Rudel gegen andere Männchen verteidigen. Das laute Röhren der Anwärter ist vor allem in der Dämmerung zu hören. Platzhirsche markieren ihren Brunftplatz mit einem stark riechenden Sekret aus der Voraugendrüse. Mit ihrem Geweih wühlen sie die Boden auf. Diese Warnsignale sollen Konkurrenten auf Abstand halten. Gleichzeitig gilt es, das eigene Rudel zusammenzuhalten. Neben all diesen Anstrengungen bleibt keine Zeit, zu fressen. Daher verlieren Platzhirsche während der Brunft bis zu ein Fünftel ihres ursprünglichen Körpergewichts.
Taucht dann doch ein kampfwilliger Herausforderer auf, schreiten die Hirsche im Imponierschritt parallel zueinander, um sich gegenseitig die Breitseite zu zeigen. Um das Gegenüber einzuschüchtern, wird heftig mit den Hufen gestampft und Geäst zum Knacken gebracht. Wenn niemand nachgibt, kommt es unweigerlich zum Kampf: Die Hirsche prallen frontal mit ihren Geweihen aufeinander und schieben sich über den Brunftplatz. Wer flieht, verliert.
Ist ein Hirsch auf der Suche nach einem Weibchen, röhrt er recht monoton. Sein Rufen klingt nur wenig herausfordernd. Das Röhren wird jedoch deutlich kräftiger, wenn ein Konkurrent antwortet. Besonders laut röhrt der amtierende Platzhirsch, wenn er sich bei seinem Rudel aufhält. Je älter ein Hirsch, desto tiefer ist seine Stimmlage. Das “Trenzen” wiederum ist eine Abfolge kurzer Laute, die der Sieger einem unterlegenen Kontrahenten nachruft. Tatsächlich hat auch die Witterung einen Einfluss: Bei ruhigem Herbstwetter mit großen Temperaturunterschieden zwischen Tag und Nacht schreien Hirsche besonders kräftig. Starke Winde oder hohe Temperaturen dämpfen hingegen die Lust am Brunftschreien.
Ungestört bewegt sich Rotwild mit einer Schrittlänge von etwa 90 bis 110 cm (Hirschkühe) bzw. 110 bis 150 cm (Hirsche). Dabei setzen die Tiere den hinteren Fuß oft in den Abdruck des vorderen Fußes. Wenn sich Rothirsche gestört fühlen, bewegen sie sich im Trab mit einer Schrittlänge von bis zu 3 Metern. Bei Hast gehen sie auch in den Galopp über oder springen.
Seiner Spur folgend sehe ich vor meinem geistigen Auge den Hirsch an einem kleinen Bäumchen vorbei traben, an einem Fußweg kurz innehalten und dann mit einer ausladenden Kurve über einen Hügel weiterziehen. Die Richtungen, die der Hirsch einschlägt, erschienen mir häufig so anders als die, die wir Menschen gewählt hätten. Die Welt des Hirsches ist eine eigene, und er zeigt uns mit seiner Fährte, dass er zielstrebig einen Ort ansteuert.
Ein besonderer Fund
Die Spur endet letztlich hinter ein paar Büschen in einer schlammigen Grube. Doch dies hier ist keine einfache Pfütze. Ein sehr markanter Geruch liegt in der Luft, und auch die Spuren lassen keinen Zweifel: Die Fährte des Rothirschs hat uns zu einem sehr intimen Ort geführt.
Während der Paarungszeit scharrt der Platzhirsch eine Grube in den Boden, die sogenannte Brunftgrube oder -suhle. Diese Stelle sucht er immer wieder auf, um sie mit seinen Körperflüssigkeiten zu markieren und sich darin zu suhlen. Die Grube nimmt dabei den kräftigen Geruch seines Urins und Spermas an. Der Urin des Hirsches enthält das Geschlechtspheromon Androsteron, das zum Höhepunkt der Brunft besonders intensiv riecht. In der Nähe kann man Bäume finden, die der Hirsch mit dem Sekret seiner Voraugendrüsen einreibt.
Scharren, Wühlen, Verbeißen – Das Rotwild verändert seine Umwelt intensiv. Die Auswirkungen auf die Vegetation werden vor allem im Zusammenhang mit den sogennanten Verbiss-Schäden als ein Problem diskutiert. Tatsächlich aber sind Veränderungen wie die Brunftsuhlen ein Geschenk für die Natur. Durch das Aufwühlen von feuchtem Boden entstehen neue Lebensräume für Wasserinsekten oder Laichplätze für Libellenarten. Im Frühjahr freuen sich zahlreiche Vogelarten über das ausfallende Winterfell des Schalenwildes – es eignet sich wunderbar für den Nestbau. Abgeworfene Geweihstangen sind durch ihren hohen Gehalt an Kalzium und Phosphor bei zahlreichen Nagetieren beliebt.
Das Schälen von Baumrinde und der Verbiss von jungen Bäumen mögen aus forstwirtschaftlicher Sicht problematisch sein. Ökologisch betrachtet lässt das Rotwild aber durch seine Fraßeinwirkung kleine Biotope entstehen, die die Artenvielfalt im Wald erhöhen können. Es entstehen offene Bereiche in Wäldern, dies hilft lichtliebenden Pflanzenarten. Indem die Tiere junge Bäume verbeißen, wachsen diese buschiger und dichter – das Ergebnis sind ideale Nistplätze für manche Vogelarten.
Große Wildtiere wie Rothirsche verbreiten verschiedenste Pflanzensamen nicht nur über ihren Kot, sondern auch, indem sie sie in ihrem Fell und an ihren Hufen mittragen. Pflanzensamen können zum Beispiel bei einer Wanderung zu den Brunftplätzen über 100 km weit befördert werden. Und so zeigt sich: Die Tiere hinterlassen noch weitaus mehr Spuren als die, die wir als Abdrücke im Erdboden erkennen können.
Wer die Spuren von Rotwild, Damwild, Schwarzwild und anderen Tieren vergleichen will, findet viele Beispiele auf spurenjagd.de.
Den Trailing-Kurs, von dem ich hier berichtet habe, haben Stefanie Argow und Jörn Kaufold organisiert. Ihre Kurse und Touren kann ich wärmstens empfehlen.
Für das Titelbild zu diesem Artikel geht ein herzlicher Dank an wild_wendland.
1 Kommentar
Cristina Camarata
Dieser authentische, lebendig und bildhaft geschriebene Erlebnisbericht über einen Trailing-Kurs hat mir sehr gut gefallen und wird sicher viele Leute dazu inspirieren, selbst mal so einen Kurs zu buchen. Die Schilderungen zu lesen, war für mich spannend und schöner, als einfach ein Video darüber anzuschauen, weil man beim Lesen mehr auf die Details achtet. Das Spurenlesen ist wohl ziemlich anspruchsvoll, aber sicher auch ein lohnendes Abenteuer. Ich erinnere mich an Dokumentarfilme mit Native Americans und Naturvölkern in Regenwäldern und Steppen, die ich als Kind im Fernsehen gesehen habe… Dass man bei solch einer Tour mit seinen Gedanken ganz im Hier und Jetzt ist, glaube ich gerne. Das war ich auch beim Lesen dieses Artikels 😊. Es muss ein wahrhaftes Erlebnis sein, einen Rothirschen auf einer Lichtung in der Dämmerung zu sehen und zu hören, in seiner “eigenen” Welt… Was für imposante, schöne Tiere das sind. Andererseits bin ich ehrlich gesagt froh, beim Lesen den markanten “Geruch” einer Brunftsuhle zu “verpassen”😅.
Sehr gut finde ich an diesem Artikel auch das Plädoyer für das Rotwild, dass wegen seiner “Verbiss”-Schäden stark in der Kritik steht, weswegen dann wieder die Rufe nach Dezimierung des Wildes durch Jagd laut werden. In einer ausgeglichenen Natur kann sich das Rotwild sicher nicht übermäßig vermehren und solche Schäden im Wald anrichten, wie etwa der Mensch, wenn er seinen Müll im Wald illegal ablädt, den Wald “intensiv” wirtschaftlich nutzt, mit schweren Harvestern den sensiblen Waldboden platt drückt… Auch können Rothirsche und anderes Wild das Klima nicht derart zum Nachteil für die Vegetation verändern, wie der Mensch es tut! Für das Rotwild spricht das hier so schön beschriebene Schaffen neuer Lebensräume für andere Tiere – kleine Feuchtbiotope, kleine Lichtungen mit dichteren, buschigeren Bäumen und die wichtige Versorgung der im Wald lebenden Nagetiere mit wertvollen Mineralstoffen in den abgeworfenen Geweihen!