Leuchtende Nachtwolken

Zur Sommersonnenwende vor einem Jahr konnte man ein ganz besonderes Naturschauspiel beobachten. Am Nachthimmel über Deutschland waren Leuchtende Nachtwolken (NLC, “noctilucent clouds”) zu sehen. Dies sind Ansammlungen von Eiskristallen in einer für unsere normalen Wolken unüblichen Höhe von 81 bis 85 km. Wetterwolken sind lediglich in Höhen von bis zu 13 km versammelt. Die viel höheren Eiskristall-Wolken können daher später nach Sonnenuntergang oder früher vor Sonnenaufgang von der schräg unter dem Horizont stehenden Sonne angestrahlt und damit zum „Leuchten“ gebracht werden. Dann erscheinen sie uns als magische, gelb bis silbrig leuchtende Schlieren am Firmament.
Die Zeit der Sommersonnenwende ist ohnehin voller zauberhafter Naturphänomene. Alles ist voller Leben, alles Lebendige entfaltet seine größte Kraft. An diesem Tag, zur Zeit des Solstitiums (lateinisch für „Sonnenstillstand“), zieht die Sonne am längsten über den Himmel, und es folgt die Nacht mit der kürzesten Dunkelheit. Die Sommersonnenwende in 2019 war für mich eine ganz besondere, denn die Leuchtenden Nachtwolken verlängerten die Gegenwart des Sonnenlichts sogar bis in den Sternenhimmel hinein – so als wolle der längste Tag des Jahres einfach nicht enden.
Leuchtende Nachtwolken werden in Mitteleuropa am häufigsten von Anfang Juni bis Ende Juli gesichtet, also in den Monaten um die Sommersonnenwende, wenn die Nächte besonders kurz sind. Voraussetzung ist jedoch, dass sich Eiskristalle oberhalb der Mesosphäre versammeln. Hier herrscht das absolute Temperaturminimum der Erdatmosphäre. Die Temperaturen fallen dort auf -130 Grad und darunter. Doch woher kommen diese Eiskristalle? Das blieb lange ein Rätsel.
Leuchtende Nachtwolken haben wir Vulkanen und Sternschnuppen zu verdanken
Wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwindet, wird es nicht schlagartig dunkel. Im Lauf der mystischen Dämmerung nimmt die Helligkeit des Himmels ab, und zwar um das 400.000-Fache! Sobald die Sonne sechs Grad unter dem Horizont steht, fällt uns das Lesen ohne künstliches Licht sehr schwer. Bei zwölf Grad verschwinden die Umrisse in unserer Umgebung. Und bei 18 Grad tritt völlige Dunkelheit ein – abgesehen natürlich von den Nächten, in denen der Mond die Landschaft in sein silbriges Licht hüllt. Leuchtende Nachwolken werden sichtbar, wenn die Sonne zwischen sechs und 16 Grad unter dem Horizont steht.
Noch ist nicht völlig geklärt, wie es zur Himmelserscheinung der Leuchtenden Nachtwolken kommt. Damit sich Eiskristalle in dieser extremen Atmosphärenschicht ansammeln können, muss es dort Aerosole geben – winzige Schwebeteilchen, an denen sich Feuchtigkeit binden kann. Der Eintrag von Vulkanasche in die Hochatmosphäre, wie bei der Eruption des Krakatau 1883, kann für ein paar Jahre diese Erscheinungen begünstigen. Doch wie sind dann die heutigen Leuchtenden Nachtwolken zu erklären? Inzwischen geht die Wissenschaft davon aus, dass für Leuchtende Nachtwolken vor allem feiner Staub verantwortlich ist, der beim Verglühen von Meteoren entsteht. Und tatsächlich leuchten Sternschnuppen typischerweise genau in der Höhenlage auf, in der sich die Leuchtenden Nachtwolken befinden.
Die Sommersonnenwende – ein magischer Moment
Die Sommersonnenwende markiert den Beginn des astronomischen Sommers. In der Regel ist es der 21. Juni, an dem die Sonne über dem nördlichen Wendekreis steht. Dann verzeichnen wir die Sommersonnenwende auf der Nordhalbkugel und gleichzeitig die Wintersonnenwende auf der Südhalbkugel. Da aber das Sonnenjahr knapp sechs Stunden länger ist als das kalendarische Jahr mit genau 365 Tagen, verschiebt sich der Zeitpunkt der Sonnenwenden in jedem Jahr um knapp sechs Stunden auf eine individuelle Uhrzeit. Die Schaltjahre gleichen das in etwa wieder aus. So kann die Sonnensonnenwende auch mal – wie in diesem Jahr – auf den 20. Juni fallen.
Für unsere Vorfahren hatten diese Tage eine ganz besondere Bedeutung. Angesichts der harten Entbehrungen in der kalten Jahreszeit und der existenziellen Abhängigkeit vom Kreislauf der Natur ist dies kein Wunder. Und so hatten Sonnenwendfeste in den germanischen, nordischen, baltischen, slawischen und keltischen Religionen einen wichtigen Platz. Zwölf Tage und Nächte, hieß es, steht das drehende Jahresrad still – ebenso wie auch in der gegenüberliegenden Wintersonnenwende – und die Naturgeister und Elfen sind den Menschen besonders nah.

Die Menschen versammelten sich um große Feuer, tanzten und feierten extatisch und hielten gesammelte Heilkräuter an die Flammen, um sie mit der Kraft der Sonne anzureichern. Rollende, brennende Sonnenräder und geschwungene Fackeln symbolisierten die ewige Drehung des Jahresrades. Die Eiche galt im keltischen Baumkalender als König der Bäume und Herrscher dieser Zeit. Und auch der Holunder, der Baum der lebensspendenden Göttin, spielte eine wichtige Rolle bei den Mittsommerfeiern. Noch immer werden vielerorts Holunderküchlein aus den Dolden des Holunder gebacken.
Auch heute können die Mittsommertage eine ganz besondere Bedeutung für uns haben. Der Höhepunkt des Lichts wird überschritten. Wir können uns an dieser herrlichen Zeit erfreuen und das Leben mit allen seinen Höhepunkten feiern. In der Gewissheit, dass die Tage wieder kürzer werden, können wir ebenso Demut empfinden und erkennen, dass auch die Schattenseiten unseres Lebens notwendig sind, um glücklich sein zu können. Was hat es wohl damit auf sich, dass auf jeden Höhepunkt ein Niedergang folgt, und auf jeden Tiefpunkt ein Aufstieg? Eine Nacht, womöglich eröffnet von Leuchtenden Nachtwolken, ist eine wunderbare Zeit, um diesen Fragen nachzugehen.


2 Kommentare
Cristina Camarata
Oh, das ist wieder ein sehr interessanter und lehrreicher Beitrag! Faszinierend und plausibel beschrieben und mit wundervollen Fotos unterlegt.
So etwas hätte ich auch gerne damals in der Schule gelernt. Wenn ich an den verstaubten Naturkundeunterricht denke… Marcel, du könntest sicher auch ein sehr guter Lehrer sein und Schulklassen begeistern! Sehr schön finde ich auch in diesem Beitrag die große Bandbreite des behandelten Themas : Meteorologie, Physik, Geologie, Anthropologie… kommen vor, bis hin zu den Naturreligionen, Mythen und den philosophischen Betrachtungen zum Schluss des Artikels, die alle zu einem ganzheitlicheren Verstehen der Bedeutung der Sommersonnenwende führen und ihre Magie beleuchten, wie die faszinierenden leuchtenden Nachtwolken, die ich noch nie gesehen habe.
Vielen Dank für das schöne Leseerlebnis!
Marcel Gluschak
Vielen Dank für deine tolle Rückmeldung – es freut mich sehr, dass dir der Bericht gefallen hat.