Herbst

Der Kranichzug

Zigtausende Kraniche machen im Herbst Zwischenhalt in Linum bei Berlin © Marcel Gluschak

Egal, wo ich gerade bin und was mich gerade beschäftigt, wenn plötzlich am Himmel die Kraniche zu hören sind, blicke ich sofort auf. Ihre Rufe und ihre charismatische keilförmige Flugformation gehören zum Herbst wie das bunte Laub an den Bäumen. Der Kranich (Grus grus) gilt als Bote des Glücks – auch deshalb erfreut mich sein Anblick immer wieder aufs Neue. Doch was so stimmungsvoll und anmutig erscheint, ist auch eine enorme Kraftanstrengung und ein alljährliches Abenteuer für die grauen Zugvögel.

Zweimal im Jahr überquenren Kraniche den europäischen Kontinent. Im Herbst fliegen sie zu ihren Brutgebieten in die Winterquartiere, im Frühjahr kehren sie wieder zurück. Dabei folgen sie je nach Brutgebiet einer der traditionellen Zugrouten: die westeuropäische Strecke über Frankreich nach Spanien, der baltisch-ungarische Zugweg mit Ziel Nordafrika, und die osteuropäische Route, die über das Schwarze Meer nach Israel oder Ostafrika führt.

Nasse Füße als lebensrettende Maßnahme

Auf ihrer langen Reise in die Winterquartiere machen die Kraniche an bewährten Sammelplätzen Pausen. Dort halten sie sich bis zu zwei Wochen lang auf, um Energie für den Weg zu tanken. Einer dieser Plätze, den die Kraniche immer wieder aufsuchen, ist Linum bei Berlin. Hier durfte ich diesen Oktober zigtausende Kraniche bei ihrer Rast erleben. Eine Kranichversammlung in Linum 2014 zählte rund 100.000 Tiere – das war der bisherige Rekord seit den Zählungen durch engagierte Vogelschützer.

Linum ist aus gutem Grund ein Lieblingsort der Kraniche. Hier gibt es große, flache und ungestörte Wasserflächen, in denen Kraniche gerne übernachten. Tatsächlich stehen Kraniche nachts gerne mit den Füßen im Wasser. Nähert sich zum Beispiel ein Fuchs, wird er zwangsläufig Geräusche im Wasser verursachen. Die schlauen Vögel sind so rechtzeitig gewarnt und können laut trompetend fliehen – der Fuchs geht leer aus und hat sich zudem nasse Pfoten geholt.

Kraniche sind außergewöhnliche Zugvögel

Kraniche gab es schon lange vor den Menschen. Ihre Entwicklungsgeschichte reicht zwischen 37 und 54 Millionen Jahre zurück. Sie sind weder mit den Störchen noch mit den Reihern verwandt. Die 15 verschiedenen Kranicharten, die es auf der Welt gibt, sind mit Ausnahme der Antarktis und Südamerikas auf allen Kontinenten vertreten.

Ein markantes Erkennungsmerkmal unserer Grauen Kraniche (auch Eurasische Kraniche genannt) ist ihre rote Kopfplatte. Hier sind jedoch keine roten Fern im Spiel – vielmehr besitzt diese Stelle gar keine Federn und zeigt stattdessen die stark durchblutete Kopfhaut des Vogels. Die rote Kopfplatte schwillt bei Erregung an und ist ein wichtiger Bestandteil der Kommunikation zwischen Kranichen.

Für uns viel eher wahrnehmbar ist natürlich der trompetenartige Ruf des Kranichs, den viele mit Freiheit und Erhabenheit verbinden. Über zwei Kilometer weit sind Kranichrufe zu hören. Für solch eine Lautstärke nutzen die Kraniche ihre ganze, bis zu 130 cm lange und doppelt gelegte Luftröhre.

Kraniche ziehen in Keilformationen, ungleichschenkligen Winkeln und schrägen Reihen, um sich gegenseitig zu helfen.

Wenn wir die ziehenden Kraniche am Himmel sehen, erkennen wir schnell die typische Keilformation. Die Vögel können so den Luftwiderstand verringern und den Kontakt innerhalb der Gruppe sichern. Während des Ziehens verständigen sie sich durch laute Rufe, die nachts oder bei ungünstigen Sichtverhältnissen besonders häufig werden.

Ihre übliche Reisegeschwindigkeit liegt bei bis zu 65 km/h, mit Rückenwind können sie aber auch doppelt so schnell unterwegs sein. Bei starker Kälte verstecken fliegende Kraniche ihre Beine, die sie normalerweise gestreckt halten, angewinkelt unter dem Gefieder. Sie sind ausdauernde Flieger und können bis zu 2.000 Kilometer nonstop zurücklegen. Ihre Flughöhe zeigt eine enorme Spanne von 50 und 2.500 Metern – beim Überflug der Pyrenäen sind es sogar bis zu 3.800 Meter.

Die harte Lehre der Jungvögel

Deshalb sind gerade auch für Jungvögel die Rastplätze sehr wichtig. Anders als ihre Eltern sind junge Kraniche noch keine erfahren Langstreckenzieher. Während den mehrtägigen Pausen können sie sich für die nächste Zwischenetappe stärken. Ein Rastplatz garantiert jedoch keine Ruhe – es kann auch hier zu unerwarteten Begegnungen kommen.

Ein Einblick in das Leben rastender Kraniche.

Anders als Störche müssen junge Kraniche die Route in den Süden von ihren Eltern lernen. Also ziehen die Familien gemeinsam von Rastplatz zu Rastplatz. Junge Störche hingegen kennen ihren Zugweg von Geburt an und verlassen vorzeitig ihr Brutgebiet. Storchen-Eltern brechen erst rund zwei Wochen später auf – sie können die Zeit gut gebrauchen, um sich von der kraftzehrenden Jungenaufzucht zu erholen.

Den Rückweg im Frühjahr legen Kraniche in deutlich kürzerer Zeit zurück. Spätenstens jetzt werden die Jungvögel von ihren Eltern verstoßen und müssen den Rückflug alleine antreten – dafür sind sie mittlerweile stark und erfahren genug. Der Grund für die hastige Heimkehr der Kraniche: Wer zuerst in der Brutregion ankommt, bekommt den besten Brutplatz. Es lohnt sich also, schneller zu sein als die anderen Artgenossen.

Bis zur unvermeidlichen Trennung kümmern sich jedoch die Kranicheltern sehr hingebungsvoll um ihre Jungvögel. So erzählt es zumindest die baschkirische Geschichte “Die Milchstraße”. Nach dieser Legende haben die Kraniche eine ganz besondere Spur am Himmel hinterlassen…

Ich arbeite beim WWF Deutschland und bin dort zuständig für das Jugendprogramm. Nebenberuflich absolviere ich eine Ausbildung zum Naturerlebnispädagogen bei CreNatur sowie zum Wildnispädagogen bei der Wildnisschule Hoher Fläming. Ich liebe es, in der Natur unterwegs zu sein, ob zu Fuß, im Kanu oder mit dem Fahrrad. Es vergehen schnell Stunden, in denen ich mich ausdauernd in der Naturfotografie ausprobiere oder einfach den Moment genieße, beobachtender Teil der Natur zu sein. Achtsamkeit, Respekt für die Natur und Begeisterung für ihre Schönheit liegen mir sehr am Herzen.

2 Kommentare

  • Cristina Camarata

    Wie ich lese, ist dieser sehr interessante Bericht über die charismatischen Kraniche im Oktober 2018 entstanden und daher glaube ich auch, dass diese schönen Zugvögel Glücksboten sind. Sie haben ganze Arbeit geleistet… 😉 Ich finde sie auch faszinierend und kann mir vorstellen, wie eindrucksvoll eine Versammlung von 100.000 Kaninchen in Linum sein mag. Ich frage mich nur: “Wie zählt man sie alle durch?” 😄 Ich wusste nicht, dass es sie schon so viel länger gibt als den Menschen!😮
    Ihr Leben ist wirklich anstrengend, aber spannend, und ihre Leistungen sind echt beeindruckend! Ich habe sie über Brühl in Formation fliegen sehen und dachte: “Das macht Fernweh”…

    • Marcel Gluschak

      Vielen Dank, Cristina. Zur Frage, wie die Vögel gezählt werden, haben uns die Naturschützer vor Ort auch Auskunft gegeben. Am Abend und am Morgen postieren sich Beobachter an den Stellen, wo die Kraniche zwischen Schlafplatz und Futterquelle hin und her pendeln. Bei größeren Gruppen können geschulte Augen eine Kleingruppe erfassen und dann entsprechend multiplizieren. Dabei wird immer eher konservativ geschätzt, um Zahlen nicht irrtümlich zu hoch anzusetzen. Da immer mehrere Personen beteiligt sind, die anschließend ihre Zahlen abgleichen, können grobe Fehleinschätzungen ausgeglichen werden.

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